Freitag, 31. Mai 2013

Cassiels großer Tango-Knigge: 0. Einleitung - Abgrenzung zu Regeln, zur Etikette und zu den Códigos

Es ist schon alles gesagt worden, nur noch nicht von allen.

(Karl Valentin 1888 - 1942

bayerischer Humorist, Komiker und Stückeschreiber)

Regeln für den Tango Argentino, Códigos oder Etiketten (engl. etiquette) gibt es im Internet in Hülle und Fülle. Dennoch möchte ich nach etlichen unveröffentlichten Anläufen meine Version hier einmal zur Diskussion stellen. Vielleicht ermöglicht eine andere Herangehensweise eine neue Sicht der Situation.

Einen Artikel über das soziale Verhalten, über die dos and don‘ts im Tango Argentino zu schreiben, bleibt ein Balance-Akt. Längst gilt nicht mehr als selbstverständlich, was im goldenen Zeitalter des Tangos (Épocha de Oro etwa: 1935 - 55) allgemein anerkannt und beachtet war. In Diskussionen zu dieser Frage kommt man auch sehr schnell zu einem Punkt, an dem die unterschiedlichen Auffassung sich scheinbar unvereinbar gegenüberstehen. Es gibt die Traditionsorientierten, die die klaren Vorteile von Regeln und Ritualen sehen und auf der anderen Seite stehen die Non-Konformisten, die jedes Regelwerk unter Hinweis auf den Freizeitcharakter des Tangos ablehnen.


Ist dieser Widerspruch derartig unauflösbar, wie es im ersten Moment aussieht? Inzwischen bin ich der Ansicht, eine Änderung des Blickwinkels nimmt die Schärfe aus dem Konflikt. Die Idee kam mir in der Folge eines Kommentars hier im Blog, in dem ein anonymer Kommentator vorgab, eine „deutschtümelige Regelversessenheit“ feststellen zu können. Beim intensiveren Nachdenken über diesen vermutlich wenig freundlich intendierten Kommentar ist mir aufgefallen, daß wir im deutschsprachigen Raum einen unschätzbaren Vorteil in der Frage des Benehmens haben. Dieser Vorteil liegt in der Person von Freiherr Adolph Knigge. Aber zunächst müssen wir da einige populäre Missverständnisse der Gegenwart über seine Person zurechtrücken.

Mehrfach habe ich beim Besuch einer Buchhandlung darauf geachtet, wo die zeitgenössischen Benimm-Ratgeber einsortiert sind. Typische Titel sind z.B. "Der kleine Business-Knigge" oder "Mit gutem Benehmen Geschäfte erfolgreich abschließen". Wenn ich mich richtig erinnere, dann finden sich die Anleitungen entweder in Psycho/Selbstverwirklichungsecke (zwischen: "Jetzt suche ich mir endlich den richtigen Partner" und "Was Dir Deine Sterne über Deine Zukunft verraten"), oder aber: Das Regal mit den Büchern, die den Namen "Knigge" im Titel führen, ist zwischen Kochen ("Die beliebtesten Rezepte der Fernsehköche schnell und einfach nachgekocht") und Heimwerken ("Golf I - Jetzt helfe ich mir selbst").

Freiherr Adolph Franz Friedrich Ludwig von Knigge (1752 - 1796) veröffentlichte 1788 sein Hauptwerk unter dem Titel: "Über den Umgang mit Menschen" (Den Text findet man übrigens vollständig in der offenen online-Bibliothek vom Projekt Gutenberg). Dieses Buch ist kein oberflächlicher Benimmratgeber ("Weißwein bitte nur aus Weißweingläsern", "Fisch immer nur mit Fischbesteck" und "Die Visitenkarte wird dem fernöstlichen Geschäftspartner um Himmels Willen nur mit beiden Händen überreicht"...), sondern eine zutiefst aufklärerische Schrift, die man auch als Kompendium der Alltags-Soziologie seiner Zeit auffassen kann. Es ist die Tragik Knigges, daß sein Name inzwischen nur noch als Synonym für mehr oder weniger glücklich formulierte Benimmratgeber fungiert. Das ist vermutlich das letzte, was er wollte: Die Höflichkeit von Menschen als Regelwerk für Handlungen und Verhaltensweisen ohne eine entsprechende innere Einstellung oder Geisteshaltung. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann wollte er mit seinem Werk eine philosophisch begründete Hilfestellung für Umgang mit anderen Menschen geben - mehr nicht.

Knigge hat also versucht, die Einstellungen der Menschen zu bewegen und durch intensive Begründungen dargestellt, warum ein bestimmtes Verhalten meist nicht nur vorteilhaft, sondern fast immer zwingend geboten ist. Dabei geht es nicht um Öberflächlichkeiten. Ähnlich kann man auch die Frage nach den Regeln im Tango sehen: Es geht fast nie um kleine oberflächliche Details, sondern ganz häufig geht es um die Frage nach der inneren Einstellung zum Tango und zu den Mitmenschen im Tango, die die beteiligten Akteure haben. Das mag vielleicht ein kleines Beispiel verdeutlichen: Es gibt Menschen im Tango, die sich nur tanzend auf der Tanzfläche bewegen und wenn sie nur einfach so in die andere Ecke des Raumes wollen, dann gehen sie (auch bei leerer Tanzfläche) am Rand entlang. Das kann man als inhaltsleere Benimmregel sehen, oder aber man überlegt, welche Einstellung hinter einem solchen Verhalten stehen kann und übernimmt dann diese Einstellung oder lässt es eben bleiben. Die Tanzfläche ist ein besonders geschützter Raum im Tango. Und so wird die Frage, ob man einfach quer über die Tanzfläche gehen darf, zu einer Frage, ob man in seiner inneren Einstellung diesen besonders geschützten Raum respektiert, oder ob man seine Eigeninteressen höher bewertet als den Schutz dieses Raumes. Aber dazu später mehr...

Ich wage zu behaupten, daß fast alle Benimm-Fragen im Tango zwei Dimensionen haben. Die vordergründige plakative Dimension: "Du darfst...", "Du sollst nicht..." und eine zweite tiefere Dimension der inneren Einstellung, die durchaus sinnvoll ist. Vor dem Hintergrund dieser Interpretation der Mehrdimensionalität der Regeln im Tango gewinnt natürlich der Unterschied zwischen den Regelbefolgern und den Regelverächtern eine andere, höhere Brisanz. Man kann berechtigterweise einwenden, daß es kaum Sinn macht, zu versuchen über starre (äußerliche) Regeln die innere Einstellung der Menschen in der Milonga zu ändern. Andererseits müssen sich die "Freigeister" die unangenehme Frage gefallen lassen, ob ihr Verhalten nicht manchmal von einer rücksichtslosen Einstellung gegenüber Dritten zeugt.

Bevor hier anschließend skizziert wird, wie mein Tango-Knigge gegliedert wird, sollen hier noch kurz ein paar Texte zu den Regeln und Códigos von anderen Autoren verlinkt werden:
  • Ein Klassiker zum Thema stammt aus der Feder von Ney Melo: Tango Etiquette: The Do's and Don'ts of Inviting and Accepting. Der Text ist klar strukturiert und jede Regel wird begründet.
  • Weiterhin wäre die Artikelserie in der TangoDanza (3/2007 und 1/2008) von Veronika "la potranca" Fischer zu nennen. In Teil I schreibt sie über die persönlichen Vorbereitungen für die Milonga. Teil II ist in zwei Artikel aufgeteilt, in den es um die eigentlichen Regeln in der Milonga geht. (Den Text findet man heute auf der Website der Autorin - Teil 1, Teil 2, Teil 3).
  • Interessant ist vielleicht auch die kurze Einführung von Tine Herreman für den Yale Tango Club: Tango Manners.
  • Eine Umfangreiche Sammlung kurzer und prägnanter Regeln für die Milonga findet sich bei Very Tango.
  • Mein amerikanischer Blogger-Kollege Tango therapist hat eine schöne Einführung unter der Überschrift: Los Códigos / Tango Etiquette Made Easy geschrieben (eine deutsche Übersetzung ist auf der Seite verlinkt).
Vor längerer Zeit hatte ich hier schon einmal behauptet, daß jede Tanguera, jeder Tanguero früher oder später folgende vier Beziehungen klären müsse. Die Beziehung zur aktuellen Tanzpartnerin, zum aktuellen Tanzpartner, die Beziehung zum Rest der Besucher einer Milonga und die Beziehung zur Musik sowie die Beziehung zu sich selbst. Dementsprechend wird sich dieser Versuch eines Tango-Knigges wie folgt gliedern:
  1. Über den Umgang mit der aktuellen Tanzpartnerin / dem aktuellen Tanzpartner
  2. Über den Umgang mit den Mitmenschen in einer Milonga
  3. Über den Umgang mit der Musik, den Texten und der Kultur des Tango
  4. Über den Umgang im Tango mit sich selbst.
Um den notorischen Was-wäre-wenn-Fragern gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen, nehme ich hier vielleicht eine Schlussfolgerung meiner Überlegungen vorweg: Wenn jemand alle Regeln mühelos beherscht (dann und nur dann), kann es in begründeten Einzelfällen (!) natürlich angebracht sein, einzelne Regeln zu brechen. (Aus Erfahrung kann ich allerdings berichten, daß die Regeln in 99,99% der Fälle sinnvoll und richtig sind. Für die restlichen 0,01% kann es aber unter gewissen Umständen durchaus Sinn machen, gegen die Regeln zu verstoßen. Eine notwendige Voraussetzung dafür ist allerdings ein müheloses und perfektes Beherrschen der Umgangsformen im Tango.)

Links zu den weiteren Teilen diese Tango-Knigges:
1. Über den Umgang mit der aktuellen Tanzpartnerin / dem aktuellen Tanzpartner
2. Über den Umgang mit den Mitmenschen in einer Milonga
3. Über den Umgang mit der Musik, den Texten und der Kultur im Tango
4. Über den Umgang im Tango mit sich selbst

19 Anmerkung(en):

Tangocafe hat gesagt…

Hallo Cassiel,

auch wenn schon alles gesagt wurde, gilt zudem, dass die "Wiederholung die Mutter der Weisheit" ist. So freue ich mich, wenn du uns der Weisheit ein Stückchen näher bringst!

Ich erinnere mich an meinen allerersten Tanzkurs (80er Jahre!) in der Schule. Der Tanzlehrer war eine Instanz der alten Schule und es gab ausser dem Tanzunterricht stets auch einige Minuten Benimm-Regeln. Diese hatten mir in späteren Situationen echt was gebracht und ich habe sie nie als belehrend empfunden.

Die Artikel vom tango therapist und von Veronika "la potranca" haben mir bereits sehr gut gefallen und ich habe darin das reale Milonga-Geschehen wieder erkannt. Nun bist du also an der Reihe und ich freue mich auf deine Beiträge!

ciao, Tangocafe

PacoDaCapo hat gesagt…

Hoppla, bin ich etwa der erste, der diesen neuen Beitrag von Cassiel hier kommentiert?

Gut also, dass ich hier denjenigen hämischen Stimmen zuvorkomme, die manchmal reflexartig auf das "überflüssig" oder gar "total überflüssig" Bezug nehmen und dieses Wort in einen ablehnenden Kommentar genüsslich einbauen.

Gar nicht unnötig, im Gegenteil, sehr zu begrüßen ist ein solche Betrachtung, auf deren Folgekapitel ich jetzt schon gespannt bin. Vielen Dank also Cassiel für die Mühe, auf Frhr. von Knigge zurückzukommen, der es wohl nur einem Zufall verdankt, dass er heute mit Benimmregeln so eng assoziiert wird. Ähnliches haben nämlich zu seiner Zeit recht viele verfasst. Und natürlich zu dem übrigen Text, das versteht sich.

Also gut, Benimm"regeln" lehnen wir vielleicht aus irgendeinem, ich sahe es mal unverblümt "in Kladde", 68er Reflex erstmal ab. Deutsche Benimmregeln werden darüber hinaus gern mit "preußischen Tugenden" assoziiert. Aber es geht hier nicht um "ein Junge heult nicht" oder ähnliches... (Soldatisches) bzw. um "Pünktlichkeit, Sauberkeit, Ordnung", wie es vielleicht im Baumarkt gepredigt wird.

Aber Sensibilität und Achtung des "wie" bei unserem Miteinander, bei jeglicher Kommunikation, im Alltag, im Beruf, in der Freizeit, das ist als Ergebnis einer "Kinderstube" so wichtig wie "nie zuvor"; besser noch es ist heute ebenso wichtig wie es zu allen Zeiten früher gewesen ist. Beim Tango sieht man das wie mit der Lupe, für Milongabetrachter vielleicht so wie andere ein Terrarium betrachten. [Voller Reptilien, na klar!].

Ich habe dazu auch noch nicht alles gelesen, was Cassiel auflistet, das eine oder andere schon, und könnte bzw. werde aus den mir aufgefallenen Quellen dazu ggf. zitieren. Ich bin aber von der Bedeutung des Themas überzeugt und freue mich mehr darüber als über die eine oder andere "Stilfrage" oder "Tradi-Neo-Auseinandersetzung", die diese uns Tangoliebhabern so wertvolle Nische noch durch Grabenkämpfe spalten soll.



Tanguero hat gesagt…

Dieses Kommentar ist vielleicht etwas pedantisch: aber es ist oft praktischer und stört weniger, wenn man direkt quer über die Tanzfläche läuft, zB wenn man während der Cortina (nicht während der Tanda natürlich) das Klo oder die Bar besuchen will oder sich nach Hause begibt; oder, wiederum, wenn man die Frau am Anfang der Tanda von ihrem Sitzplatz abholt. In beiden Fällen ist Gescwindigkeit wichtig, man will sich so kurz wie möglich auf der Tanzfläche aufhalten, dh man will schon weg bzw ordentlich in der Tanzrunde stehen, bevor alle zum tanzen anfangen, also wählt man die effiziente Option. Bei diesen Regeln zählt nämlich eher der Geist, der Grund der Sache: ein glückliches Zusammenleben auf der Milonga.

cassiel hat gesagt…

Huch! Es hat ja doch zwei Kommentare gegeben. Damit habe ich bei dem Thema eigentlich nicht gerechnet. Vielen Dank!

Gesondert möchte ich ganz kurz auf die vordergründig berechtigten Einwände von tanguero eingehen. Das Stau-Argument zählt für mich nur bedingt, denn spätestens an der Theke oder auf der Toilette ist der Stau dann da. Warum also die Eile?

Natürlich ist mein eher generellerer Ansatz mit der Schwäche behaftet, daß man mühelos immer Gegenbeispiele konstruieren kann. Ich denke aber: Bei nüchterner Betrachtung wird klar, worauf ich hinaus will.

Aber vielleicht wird deutlicher, was ich meine, wenn ich zum Umgang mit allen Mitmenschen in der Milonga geschrieben habe.

Ich wünsche allseits einen schönen Tag.

Marion VO hat gesagt…

Oh, das klingt in der Tat spannend und vielversprechend! Leider ist der (für mich) spannendste Teil der letzte in der Serie. Unser Verhalten nach außen spiegelt unsere Einstellung nach innen. Es fällt uns schwer, andere zu achten, wenn wir uns selber nicht achten können. Dieser letzte Teil ist meiner Meinung nach die Grundlage für alle anderen Beziehungen. Ich bin gespannt!

Veronika hat gesagt…

Allerliebsten Dank für die Verlinkung ;-)

cassiel hat gesagt…

@Veronika

Gerne!

Ich schreibe ja nun auch wirklich nichts neues, ich motiviere und begründe meine Gedanken nur anders; ansonsten werden keine bahnbrechenden Neuerungen zu erwarten sein. (Deswegen auch das Zitat von Karl Valentin zu Beginn.)

Tanguero hat gesagt…

Da du meinen Kommentar wohl noch nicht verstanden hast, versuch ich's nochmal. Stell dir vor, du bist in der Milonga. Die ersten Takte der Tanda klingen; du machst Augenkontakt mit einer der Frauen in der Frauenreihe gegenüber und ihr nickt einander zu. Also stehst du auf, um sie von ihrem Sitzplatz abzuholen. Die Idee ist, dich, zusammen mit der Dame deiner Wahl mögl. schnell und mühelos in die Tanzrunde einzufädeln bevor alle anfangen zu tanzen. Was ist da die Eile, fragst du? Die Eile ist, daß es leichter und schöner
ist, die Tanzfläche zu überqueren, bevor die Leute anfangen, die Tanda zu tanzen. Schleichst du um den Rand herum, wo die Päärchen sich schon bilden, störst du mehr und möglicherweise stiftest du auch Verwirrung bei den Damen an, weil du nicht direkt auf deine Partnerin zugehst. Deswegen machen fast alle es so: wir streiten direkt quer durch den Raum zur Partnerin. In der Cortina gilt dasgleiche. Es geht nicht darum, möglichst schnell zur Toilette oder an die Bar zu kommen. Es geht darum, möglichst wenig Zeit auf der Tanzfläche zu verbringen. Ist der Raum groß und die Milonga sehr voll, macht es auch Sinn, zu warten, bis die Tänzer zu ihren Sitzplätzen zurückgegangen sind, bevor man den Raum überquert und dann macht man das halt so schnell wie möglich, um möglichst wenig zu stören. Beobachte die Kellner, wenn sie die Getränke während der Cortina den Leuten an die Tische bringen. Sie schleichen nicht am Rand entlang, sondern gehen direkt auf die Tische zu. In allen obenerwähnten Fällen ist das kein Respektmangel sondern eine Frage von dem, was praktisch ist und funktioniert. Und so ist es, bei den Regeln des Milongaumgangs. Es handelt sich nicht darum, irgendwelche Regel einfach so zu verehren, sondern es geht darum, das Leben aller zu erleichtern und den Tanzgenuß aller zu fördern. Verstehst du jetzt? Expliziter kann ich gar nicht sein.

cassiel hat gesagt…

@Tanguero

Ich habe Dich schon verstanden und natürlich kann man das so sehen wir Du. Ich bin allerdings der Meinung, daß man in Eile weniger Zeit hat, sich rücksichtsvoll zu bewegen. Das ist halt einfach so. Bei der Abwägung, ob ich mich langsamer und rücksichtsvoller oder aber eiliger und vielleicht sogar (unbeabsichtigt) rücksichtsloser in der Milonga bewege, würde ich immer die erste Alternative wählen. Aber ich gebe zu, man kann das auch anders sehen.

Tanguero hat gesagt…

Du hast das immernoch nicht verstanden: es geht gerade um Rücksicht. Aber ich gebe da auf, du hast offensichtlich kein Interesse daran, dich auf der Milonga rücksichtsvoll
zu benehmen.

Monika hat gesagt…

@Tanguero ich kann mir nicht vorstellen dass Cassiel Deine Argumente nicht verstanden hat. Ich glaube sehr viel mehr dass er hier ein bisschen den advocatus diaboli spielt um all denen die sich keine Gedanken um den Wert der (freien) Tanzfläche machen die Augen zu öffnen. Natürlich geht ein Tänzer der eine Tänzerin (bitte gender-neutral zu sehen) aufgefordert hat quer über die Tanzfläche solange die Tanda noch nicht angefangen hat. Sobald dies aber der Fall ist sollte er aussen herum gehen. Eben um die anderen, die schon tanzen oder gerade beginnen nicht zu stören. Ebenso beim Weg zur Bar/Toilette/wasauchimmer. Abschätzen zu können ob man/frau noch über die Tanzfläche kommt oder sinnvollerweise gleich aussenherum geht um nicht den Anfang einer Tanda durch schlangengleiches (im besten Fallå) Durchwurschteln durch die schon Tanzenden zu unterbrechen ist eine Kunst.

Tanguero hat gesagt…

Monika, Du hast volkommen recht. Ich hab da ueberreagiert. Danke fuer den Hinweis. Ich bitte um Entschuldigung.

Natuerlich hat die Tanda allerdings schon angefangen, wenn man die Frau (oder umgekehrt) per Cabeceo auffordert. Allerdings hat sie eben angefangen und da haben, wohlgemerkt, die Leute noch nicht zu tanzen begonnen.

PacoDaCapo hat gesagt…

Wenn man sich bei den „Regeln“ schon auf solche Details wie „Fußgänger auf oder neben der Piste“ versteift, kann ich nur anmerken, dass solche Randerscheinungen das nicht im Mittelpunkt des eigentlichen Themas stehen. Regeln und die unverkniffene Nähe zu den anderen Teilnehmern an dieser zusammengwürfelten Runde namens Milonga, die jemand in einem Kommentar mit Empathie bezeichnet hat, sie aber als gegensätzlich zu den Regeln hinstellt, schliessen sich nach meiner Meinung nicht aus, im Gegenteil. Empathie fördert die Sensibilität und das Nachdenken über das eigene Verhalten und dessen mögliche Reaktionen bei anderen. Das heisst aus den „Regeln“ werden nach und nach selbstverständliche Verhaltensweisen.

Bei dem Beispiel mit den Fußgängern wurde ich allerdings an immer wieder kuriose Momente erinnert, wenn man gerempelt wird oder sogar selbst ganz unerartet jemanden anrempelt oder touchiert. Wenn es jeweils Fußgänger, Passanten und Querläufer, waren, habe ich jedes Mal diese „Schrecksekunde“ schnell abgetan mit einer Bemerkung, dass Fußgänger hier auch nichts zu suchen haben. Am äußersten Rand der Piste ist die Gefahr zwar geringer, von zwei oder mehr Seiten – von anderen Tanzpaaren - in die Zange genommen zu werden, aber die Begegnungen mit Fußgängern und „Umherstehenden“ wird wahrscheinlicher. Der Rand franst oft sehr aus.

Wie gut, dass diese „Códigos“ nicht allein in Form von Verkehrregeln dargestellt werden müssen. Eine sehr humoristische Betrachtung „störender Typen auf der Milongapiste“ lieferte kürzlich Ángel Mario Herreros in einem Artikel in „Tango y cultura popular“, dem kleinen Tangomagazin aus Rosario. Seine gekonnt karikierende Betrachtung (von der sich einer wie Riedl eine Scheibe abschneiden könnte, was Beobachtung, Schreibe und Humor betrifft) zeigt, dass die „Regeln“ selbst im Heimathafen des Tango in den Milongas oft genug nicht beachtet werden und wie dies für alle frustrierend sein kann. Dies garniert mit Textstellen aus den Tangos selbst; das zeigt, dass das Thema so alt ist wie der Tango.

Diese Debatte hat also nicht zum Thema, ob und ggf. wie gut man „Buenos Aires“ in Eurpoa imitiert, sondern es geht um ganz generell menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen. Ich fühle mich ein wenig auf den Arm genommen, wenn jemand aus Bs As zurückkkehrt und als DJ sofort das Publikum „umerziehen“ möchte, was das Verhalten bei und nach Cortinas angeht. So wenig Cortinas gespielt werden, dies hat sich längst nicht bei allen DJs durchgesetzt, auch nicht bei „traditionell“ auflegenden, so ist doch das individuelle Verhalten höchst unterschiedlich, und man sollte es weitgehend so akzeptieren, wie es passiert (als DJ!). Sonst brächte man sich doch allzu leicht in den Verdacht, die „Tangopolizei“ spielen zu wollen. Man kann n. m. Meinung nicht vorschreiben, wer wann den Tanzpartner zu wechseln habe, das geht mir persönlich zu weit. Auch allzu kategorische Imperative wie das Sprechen beim Tanz generell zu verpönen, sind nicht hilfreich, lösen u. U, nur eine falsche Debatte aus wie bei dem obigen Punkt, was das wann und wie des Überquerens der Tanzfläche angeht.

Anonym hat gesagt…

Sind die Regeln nicht dazu da um das Leben in der Milonga für jeden angenehmer zu machen. Wie die Verkehrsregeln, rote Ampel halt, Grün fahren, sonst besteht die Gefahr eines Unfalls. Innerhalb einer Tanda gegen die Tanzrichtung aussenrum, da stört es niemand wenn man auf die Tanzpaare achtet und der Tänzer sieht einen.

Grüsse Bert

Anonym hat gesagt…

Unglaublich!
Also tango-novize begeistert nach den ersten Stunden bin ich von dieser übereifrigen Abgrenzung der "wahren Lehre" von denen der "Frevler" doch vor den Kopf gestoßen! Müssen Menschen immer das trennende statt das Gemeinsame herauskehren und sich gegenseitig das Leben schwer machen? Und das mit den Inhalten einer Freizeitbeschäftigung? Bitte nicht immer so engstirnig , dogmatisch und und nur auf die eigene Meinung fokusiert denken!
Mit dieser Verteufelung von allem Neuem, was nicht edo ist, frage ich mich, ob ich wirklich Bestandteil einer solchen "Gemeinschaft" werden will?

Mit zweifelnden Grüßen

Anonym hat gesagt…

der Kommentar oben bezog sich auf diese Diskussion:
Antwort eines sog. "Tango-Talibans" auf den offenen Brief von Annette Postel in der aktuellen TangoDanza

Hatte zuerst den Tango-Knigge durch (und noch das Fenster dazu offen). Dem Knigge kann ich durchaus was abgewinnen. Im Laufe des stundenlangen Lesens in diesem Blog und in den oben genannten Beitrag zu letzt zu später Stunde festigte sich bei mir jedoch ein Bild von dogmatischer Unversöhnlichkeit statt von Freude an der Vielfalt der Tango Musik inkl. deren neuen Entwicklung sodass ich zu dem Schluss gelangen muss, als Tango-Neuling bloß aufzupassen, in Zukunft nicht mit solchen Dogmatikern zusammenzutreffen.
Sorry

cassiel hat gesagt…

@Anonym 

Schön, dass Du hier schreibst. Auch wenn Deine Antwort auf den Artikel zu Annette Postels Aufruf: Stoppt die Tango-Taliban!, nun versehentlich in einem anderen Diskussionsstrang gelandet ist. Darf ich eine Frage stellen? Kennst Du den ursprünglichen Artikel von Annette Postel? Findest Du den Aufruf, der als offener Brief seinerzeit in der TangoDanza veröffentlicht wurde, „verbindend“? Oder hat damals vielleicht Annette eher das „Trennende statt das Gemeinsame herausgekehrt“?

Klar, mein Text war deutlich formuliert. Aber es war eine Antwort auf Annette Postel. Ich finde, ich bin da noch vergleichsweise harmlos mit ihr umgegangen. Ich habe es häufiger betont und ich betone es gerne noch einmal: Jede und jeder soll seinen Tango finden, wenn es aber zu Hetze und Gehässigkeiten gegenüber Menschen kommt, die eine traditioneller orientiertwen Tangobegriff vertreten, dann werde ich deutlich. Gut möglich, dass das einige Mitmenschen als „dogmatisch“ empfinden – ich würde es eher als klar bezeichnen.

Abschließend wiederhole ich gerne noch einmal, was ich schon häufiger im Blog formuliert habe: Auch ich hbae eine ENtwicklung im Tango durchlebt. Meine Vorliebe für den Tango zwischen dem Ende der 20er Jahre und etwa 1955 hat sich erst entwickelt. Das muss nicht jede und jeder gut finden. Ich kann sehr gut damit leben, wenn andere Zeitgenossen andere Vorlieben haben, ich mag nur nicht diffamiert werden (wie z.B. durch den Text von Annette Postel).

Anonym hat gesagt…

Ich kenne den Artikel zu Anette Postels Aufruf nicht und kann ihn daher weder gutheißen noch ablehnen (abgesehen von einem mir im Blog bekannt gewordenen Zuordnungsbegriff). Im Grunde geht es mir aber (wenn auch leider an völlig unpassender Stelle - der Knigge ist wie vieles Andere schon sehr hilfreich) um eine grundlegende Wahrnehmung meinerseits in diesem Blog.

Ich habe in den letzten Tagen viel aus diesem Blog gelernt und anerkenne Dein Wissen und Deinen Schreibstil. Ich orte jedoch vielerorts (hier in diesem Blog und auch sonst) eine deutliche Ablehnung von allem, was nicht EdO ist und das auf eine nach meinem Empfinden doch deutlich ab-/ausgrenzende Art und Weise. Zumindest finde ich den an verschieden Stellen zitierten Begriff des "Mamborambo"jedenfalls als nicht unbedingt wertschätzend. Das finde ich schade. Generell stört es mich, wenn im menschlichen Zusammenleben das Trennende über das Verbindende gestellt wird. Erst recht, wenn es sich um primär "private" Interessen handelt, die mit der Freude an den Dingen, am Leben, Hobby etc. zu tun haben.

Da mir moderne Interpretationen bzw. Weiterentwicklungen des Tango (wie immer man es nennen will) gefallen und dies für mich auch auf das Tanzen des Tango zutrifft, fühle ich mich hier auch als Person ausgegrenzt und nicht willkommen.

Diese Ausgrenzung lässt bei mir nun doch erhebliche Zweifel aufkommen, ob ich mich auf die Tangoszene überhaupt einlassen soll. Vielleicht ist es für mich besser, Diskussionen und ev. Anfeindungen bereits im Vorfeld auszuweichen und die Ausübung des Tango nur auf den Tanzschulsaal zu beschränken. Auch der fallweise auftauchende Hinweis, dass es sich bei solchen moderneren Geschmacksrichtungen doch eher um eine vergängliche Phase handle (ala: wenn die "Tango-Pubertät" durchlaufen ist, wird es besser) lässt nicht das Gefühl aufkommen, geschätzt zu werden.

(Diese Empfindungen bahnten sich dann mitten in der Nacht spontan ihren Weg in den falschen Blogbeitrag - sorry dafür)

cassiel hat gesagt…

Hallo Anonym, ich finde es sehr schön, dass Du noch einmal geschrieben hast. Das zeigt mir, Du hast ein großes Interesse am Tango.

Darf ich eine Bitte äußern? Wenn wir uns hier weiter austauschen, dann wäre es hilfreich, wenn Du Dir einen Namen zulegst (es kann Dein realer Name sein, ebensogut kannst Du Dir ein Pseudonym ausdenken), es erleichtert den Dialog.

Zu Deinen Gedanken: Natürlich schreibe ich zu meinem Tango, das ist - wie ich finde - in einem privaten Blog legitim. Ich persönlich bemühe mich, Andersdenkende nicht herabzusetzen; jede und jeder soll seinen Tango leben. Der von Dir zitierte Begriff „Mamborambo“ stammt von einem der letzten großen argentinischen Milongueros, Carlos Gavito aus seinem letzten Interview. Wenn ich Carlos Gavito richtig verstanden habe, dann wendet er sich mit diesem Begriff gegen einen akrobatischen oder artistischen Tango, der in der Folge des Booms in den späten 80er Jahren von Argentinien aus in den Rest der Welt exportiert wurde. Gavito führt in dem Interview aus, wie diese Form des Tangos der ursprünglichen Idee zuwider läuft.

Auch ich bin von meiner Veranlagung her eine eher integrierende Persönlichkeit. Im Tango habe ich allerdings feststellen müssen, dass es m.E. nicht funktioniert. Wenn in einer Milonga einige Tänzerinnen und Tänzer ihre persönliche Freiheit über die Rücksichtnahme auf andere Mitmenschen stellen, dann hilft - so jedenfalls meine bittere Erfahrung - nur eine Trennung der Gruppen in verschiedene Veranstaltungen. Wenn Du in diesem Blog ganz weit zurückblätterst, dann wirst Du merken, auch ich war früher anders unterwegs; meine Haltung hat sich erst mit der Zeit entwickelt. Ich bevorzuge einen Tango zu einer bestimmten Musik (also die Musik der EdO) und ich mag nicht getreten werden in der Milonga, ich empfinde es als störend, wenn ein Paar in den Raum vor mir in der Milonga hineintanzt und ich mag nicht permanent meine aktuelle Tanzpartnerin vor hohen Beinen (Boleos etc.) in Schutz nehmen müssen.

Wenn Dir die zeitgenössische Musik besser gefällt - sei es nun momentan oder dauerhaft - dann ist das ja vollkommen in Ordnung. Die Frage, ob Du den Tango wirklich kennenlernen willst (auch wenn es möglicherweise phasenweise unbequem werden könnte) kannst Du Dir nur selbst beantworten. Ich lese am Ende Deines Beitrags, dass Du Dich schon durch entsprechende Bemerkungen („wenn die "Tango-Pubertät" durchlaufen ist, wird es besser“) nicht geschätzt fühlst. Darf ich Dir einen Vorschlag für eine andere Interpretation solcher Meinungen unterbreiten? Lies es vielleicht so, dass fast alle Tänzerinnen und Tänzer diese Entwicklung durchlaufen haben. Niemand hat gesagt, dass der Tango einfach zu erlernen ist. Da gibt es viel zu entdecken und die Reise ist spannend…