Freitag, 19. August 2011

Der Tango und die Politik - Der Versuch einer Miniatur

Eigentlich - so dachte ich jedenfalls bislang - sollte der Themenfokus für ein Tangoblog ziemlich eng liegen. Möglicherweise wäre es nicht gut, wenn ich andere Themen in dieses Blog trage und somit das Thema Tango aufweiche. In dem amerikanischen Blog Alex.Tango.Fuego wurde es schon immer deutlich lockerer gehandhabt und so schrieb der Autor auch über Umweldprobleme, Staatsverschuldung usw. und der britische Blogger Tangocommuter schrieb unlängst in einem Exkurs zu den Unruhen in Großbritannien.

Aufmerksame Leserinnen und Leser werden es vielleicht bemerkt haben: Ich bin in den letzten Wochen ziemlich stumm gewesen. Das liegt zu einen Teil an meiner (häufig eher stressigen, bisweilen extrem ärgerlichen) beruflichen Umgebung, zu einem anderen Teil liegt es aber auch darin begründet, daß ich von anderen Themen absorbiert bin. Im Denken bin ich eher langsam und gründlich und somit gibt es bei mir Phasen, in denen ich Eindrücke von außen aufsauge wie ein Schwamm und in einer solchen Phase befinde ich mich gerade.

Für meine Begriffe ist es eine Stärke des Tangos, daß er einem reflektierten Umgang mit äußeren Einflüssen und Gedanken Raum lässt. Eine gewisse Neigung zur Philosphie schadet auch niemandem im Tango. Krampfig wird es m.E. erst, wenn man die Milonga zur geistig-emotionalen Sonderzone erklärt und versucht, den Alltag mit dem Schuhwechsel abzustreifen. Das soll jetzt nicht als Aufruf zur Schwarzmalerei mißverstanden werden, aber ich will versuchen, den Fokus meiner momentanen Gedanken hier zu skizzieren. Ich ahne eine Nähe bzw. Verwandschaft zum Tango. Leider kann ich sie nicht konkret genug greifen.

Am letzten Wochenende kam über den RSS-Feed der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Artikel von Frank Schirmacher unter der Überschrift: Bürgerliche Werte "Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat". In diesem Artikel setzt sich der Autor kritisch mit der gegenwärtigen wirtschaftlichen Krise auseinander. Nun ist Frank Schirmacher als Herausgeber der eher konservativen FAZ sicherlich vollkommen unverdächtig ein linksrevolutionärer Umstürzler zu sein. Vor diesem Hintergrund gewinnt der Text zusätzlich an Brisanz.
Im wesentlichen fasst Schirmacher die Gedanken von dem erzkonservativen britischen Journalisten und Thatcher-Biograph Charles Moore zusammen (Nomen est omen! Moore ist vielleicht nicht zufällig namensverwandt mit Thomas More - manchmal auch unter seinem lateinisierten Namen Thomas Morus bekannt - ebenfalls ein "Etablierter", der angesichts der Umstände das radikale Umdenken anfing). Charles Moore hatte kurz vor (!) den Unruhen in Großbritannien in einen denkwürdigen Artikel in der Tageszeitung The Telegraph (I'm starting to think that the Left might actually be right) laut darüber nachgedacht, wie es um die gegenwärtige ökonomische Situation breiter Schichten der Bevölkerung bestellt ist und wie sich seiner Ansicht nach die Krise perpetuiert. Breiten Raum nimmt dabei das Nachdenken darüber ein, inwieweit Andersdenkende in der Vergangenheit nicht doch Recht gehabt haben.

Was das nun mit Tango zu tun hat? Für mich finden sich da zwei Ansätze. Erstens sind Zeiten wirtschaftlicher Not geradezu prädestiniert für eine Blütezeit des Tangos. Die Armut im damaligen Buenos Aires war vermutlich ein ganz wesentlicher Faktor für die Entstehung des Tangos. Nach der unkontrollierten Einwanderung großer Gruppen aus der "alten Welt" kam es zu sozialer Verelendung und der Tango bildete gewissermaßen ein Psycho-Ventil, diese persönliche Not zu verarbeiten. Das soll jetzt keinesfalls ein zynischer Vergleich sein. Die heutigen Nöte sind sicherlich nicht mit der damaligen Situation vergleichbar. In der Frage der empfundenen oder realen Perspektivlosigkeit sieht das m.E. schon ganz anders aus.
Und ein zweiter Aspekt ist im Tango-Kontext für meine Begriffe relevant: Wie schwer ist es eigentlich, gewohnte und liebgewonnen Bahnen zu verlassen und nach Alternativen zu den vermeintlich sicheren Dogmen der eigenen Philosophie und Existenz zu suchen?

So. Mehr als diese zwei Gedanken oder Fragen kann ich in diesem Beitrag, den ich jetzt einmal bewußt als "off-topic" markiere, momentan nicht liefern. In den letzten Tagen hatte ich einen intensiveren eMail-Kontakt mit einem Leser, der offenbar mit den Inhalten dieses Blogs extrem unzufrieden ist. Auch aus diesem Grund veröffentliche ich einmal ziemlich unausgereifte Fragmente meines momentanen Denkens. Ich bin bedauerlicherweise eben nur ein mono-synaptisch verkabelter Mann, ich kann gleichzeitig nur an einer gedanklichen Baustelle arbeiten. :-)

Ich verabschiede mich wieder in mein Grübeln; freue mich aber über Anmerkungen, Ergänzungen, Lob und Tadel. ;-)

14 Anmerkung(en):

Anonym hat gesagt…

Der Aspekt Armut als Trigger für das Erblühen des Tango scheint mir, gerade im Vergleich mit der Entstehung des Tango am Rio de la Plata, ein wenig kurz gesprungen. Damals war neben der wirtschaftlichen Not das dramatische Gefühl des Entwurzeltsein zahlloser europäischer Einwanderer im Spiel. Heimweh und sonstige Sehnsüchte spielten eine wesentliche Rolle für die Blüte des Tango, der laut Expertenanalyse in Musik und Ausdruck bis heute unübersehbare einflüsse verschiedener europäischer Kulturen trägt. Armut allein macht keinen Tango, auch keine Tango-Renaissance.

Cinderella hat gesagt…

Noch ist mir nicht ganz klar, worauf du eigentlich hinaus willst, aber das geht dir anscheinend ebenso, Cassiel. ;)
Mir ist es auf jeden Fall lieber, wenn der Themenfocus für ein Tangoblog eng bleibt. Du erwähnst andere Blogs. Vielleicht ist dir aufgefallen, dass z.B. der britische Tangocommuter jedesmal, wenn er über ein tangofremdes Thema schreibt, keinerlei Resonanz bekommt. Das war so mit den UK riots, aber auch mit seinem Exkurs nach Arles vor einiger Zeit. Warum ist das so? Da kann ich ja Zeitung lesen statt Tangoblogs, denkt sich vielleicht manch Leser. Aber man muss ja auch nicht auf jeden Beitrag eingehen.
Trotzdem fällt mir hierzu noch mehr ein: Was bedeutet der Tango für uns, wenn er gerade in Notzeiten, egal welcher Art auch immer notwendiger für uns wird? Ist es nicht mehr als recht, wenn wir versuchen die Milonga, wie du sagst, als 'geistig-emotionale Sonderzone' zu begreifen, als 'Psycho-Ventil'? Ich jedenfalls ziehe gern meine Straßenschuhe aus und schlüpfe in meine Tanzschuhe. Schon allein dies Ritual lässt mich Abstand vom Alltag gewinnen. Und das will ich auch so.
Schön dass dein Wochen-Tango noch verspätet kam. Hatte ihn schon vermisst.

cassiel hat gesagt…

@anonym
Danke für Deinen Zeilen. Ja, es stimmt: Armut (ob gefühlt oder real) macht noch keinen Tango. Den Punkt der kulturell Entwurzelung finde ich ebenfalls bedeutender. Vielleicht habe ich es nicht deutlich genug formuliert. Der Verlust lang gehegter und geliebter (politischer) Überzeugungen in der jetzigen Zeit des Umbruchs ist für eine mögliche Renaissance des Tangos auch nach meiner Meinung entscheidender.

@Cinderella
Vielleicht will ich auf gar nichts hinaus. Mir war es wichtig, wesentliche Punkte, die mich beschäftigt haben einmal zu formulieren. Ich bin weder im Besitz einer objektiven Wahrheit über die gegenwärtige Lage, noch habe ich einen Vorschlag für eine Wendung zum Besseren.
Natürlich darf eine Milonga Entspannung und Freude sein, man muss aber seine offenen Fragen nicht krampfhaft wegblenden, man darf sie mit in den Tango nehmen.

Natürlich ist mir das mit der geringeren Resonanz beim Tangocommuter aufgefallen. Manchmal muss man sich vielleicht auch einmal ein paar Gedanken von der Seele schreiben ohne daß man dafür von den Leserinnen und Lesern in Form von Kommentaren belohnt wird. :-)

Ich wünsche allseits ein schönes Wochenende...

c.

chamuyo hat gesagt…

Die Not mag für die Entstehung zuständig gewesen sein (wobei mehr die emotionale als die materielle eine Rolle gespielt hatte), aber für die Blüte, für die "Epoca de Oro", war der Wohlstand ausschlaggebend. Nur so konnten die Leute ausgehen, Geld für den Eintritt und den Konsum ausgeben, von dem Musiker bezahlt wurden. Ohne Käufer für die Platten hätten die Firmen auch keine Aufnahmen durchgeführt und wir hätten heute keine Musik. Auch damals und dort wie heute und hier: ohne Moos nichts los...
Zu dem Artikel von Schirmacher gibt es auch kritische Stimmen. Er verwendet Denkkategorien des vergangenen Jahrhunderts (links -rechts) für Probleme der heutigen Zeit. Heute kommt es weniger auf linke oder rechte Politik, auf kapitalistisches oder sozialistisches Wirtschaften an, sondern auf funktionierende Lösungen. Was nicht funktioniert, lesen wir täglich in der Zeitung. Was gut klappt leider nicht, und erst recht nicht warum es gut geht.

Mikamou hat gesagt…

Dass du dich auch mit anderen Themen beschäftigst habe ich doch vermutet und dein Blog ist der Ausdruck dessen was dich gerade beschäftigt, genauso wird es in deinen Tango einfliessen. Ganz allgemein finde es interessant zu beobachten, dass auch hier (in Europa) manchmal gesellschaftliche Probleme an den Milongas durchschimmern, ich kann mich speziell an eine Milonga mit eigenartiger Stimmung erinnern, das war irgendwo bei Fukushima und dem arabischen Frühling; aber genauso schätze ich es, wenn diese nicht thematisierst werden. Die Milonga bleibt für mich ein Ort der Entspannung, eine Psycho-Ventil, keine (Gruppen-)Therapie. Unsere ganz persönliches Bündel Probleme haben wir ja alle immer dabei und bei einigen der mir bekannten Tänzerinnen und Tänzern waren es sogar die persönliche Probleme die sie zum Tango gebracht haben.

Raxie hat gesagt…

Danke Cassiel, Deine Gedanken sind absolut nachvollziehbar für mich und spannend! Es ist eigentlich egal, auf welchem Gebiet - aber es gab immer und überall plötzliche "Erkenntnisse" aus denen heraus sich überhaupt erst wieder Neues und Großes entwickeln konnte. Und es sind immer Einzelpersonen, die diese Gedankensprünge machen - und es dauert immer lange, bis eine Gesellschaft "hinterherdenkt" und es möglicherweise sogar akzeptiert.

für den Tango ganz konkret kann ich für mich sagen, dass ich mit einigem Abstand zum Geschehen auch ab und an (selten leider) echte AHA-Erlebnisse hatte. Und plötzlich hat etwas, was ein Lehrer mal vor langer Zeit erklärt hat, Sinn erlangt. Obwohl es lange lange Zeit nicht richtig für meinen Tango zu sein schien. Und plötzlich hatte ich diese Dimension des Tanzens (oder Denkens?) und konnte mit den Aussagen dieses Tangolehrers etwas anfangen und es für mich beglückend in meinem Tango berücksichtigen.

Das sind irre Momente, wie ich finde. Das eigene Weltbild wackelt mal kurz. Fundamente werden bisserl versetzt. Und plötzlich steht alles viel ausbalancierter und viel perfekter.

ich kenne den besagten Artikel von Schirmacher nicht, bin aber grundsätzlich von der Denkschärfe dieses Mannes tief beeindruckt. Und vor allem beeindruckt mich die Komplexität seines Denkens. Dass Du, Cassiel, da Verbindungen zum Tango finden konntest, ist gut nachvollziehbar.

Danke, dass Du Deine Gedanken mit uns teilst!

Chris hat gesagt…

ich glaube nicht, daß der Tango ein Kind der „Not“ war.
Warum entstehen Tänze? Es ist stets der Wunsch, neue Ausdrucksformen zu finden, damit Aufsehen zu erregen, Anerkennung zu finden, und sich abzugrenzen.
Warum überlebt ein Tanz, wenn er den Status des Neuen und Aufregenden verliert, während viele andere in Vergessenheit geraten? Wie hat es der Tango geschafft, so lange attraktiv zu bleiben?

Wirtschaftliche Nöte oder weltanschauliche Verunsicherung treiben wohl die Wenigsten in die Arme des Tango, nicht heutzutage, nicht in Europa. Allerdings ist der Tango trotz dem Individualitätsanspruch der Tänzer und des typischen Kleinkriegs einer Tanzszene als kleine Parallelwelt erfreulich unbedrohlich, beständig und überschaubar. Die Tangowelt erlaubt es zudem, sich nochmal neu zu finden oder gar zu erfinden, sie erlaubt unbedrängende Selbsterfahrungen jenseits von Psychoanalyse, Religion und Meditation.

Und noch etwas, daß für mich sehr wichtig ist: meine Entwicklung bestimme ich, lediglich mein Talent, mein Ehrgeiz, meine körperlichen Fähigkeiten limitieren mich, mein Erfolg hängt von mir ab, nicht von einer Vielzahl unbeeinflußbarer oder kaum beeinflußbarer Umstände und Voraussetzungen, die im richtigen Leben das Sein und Streben bestimmen.
Im Tango ist es für mich nicht schwer, gewohnte Bahnen zu veranlassen und mich immer wieder in Frage zu stellen. Es ist ein wunderbares Abenteuer, zu wachsen, zu lernen und sich zu entwicklen. Vielleicht sollte das auch fürs andere Leben so sein.

Von einem Tangoblog wünsche ich mir eine hinreichende Themenbezogenheit. Man kann ja vieles verschränken und verbinden, manches sogar mit Lust und überraschenden Erkenntnissen, aber irgendwann wird es „verkrampft“, um Dich zu zitieren. Ein Tangoblog, der sich überwiegend mit anderen Thematiken beschäftigt, wird über kurz oder lang Seele und Berechtigung verlieren. Und das wäre, was deinen Blog betrifft, wirklich ein Jammer.

Unknown hat gesagt…

Es ist ein wunderbares Abenteuer, zu wachsen, zu lernen und sich zu entwicklen.

Danke Chris!

Anonym hat gesagt…

Hier ist ja die gesamte Bandbreite an Reaktionen vertreten. Dann kann der Ursprungsbeitrag nicht so schlecht gewesen sein. Ich habe ihn gerne gelesen.

Was mir auffällt - vielleicht täusche ich mich ja - aus manchen Beiträgen spricht eine Erwartungshaltung bezüglich der zu behandelnden Themen. Das hier ist immer noch ein Blog und zwar der einzige erwähnenswerte Blog, den wir im deutschen Tango haben.

Eine Leserin

Uralt hat gesagt…

Über die Entstehung des Tangos gibt es ungefähr gleichviel Varianten wie es Chronisten gibt. Wir wissen es nur ungefähr und jeder jede kann sich die Geschichte auswählen die ihm ihr am besten gefällt. Aber sicher ist, und das hat bereits chamuyo geschrieben, dass der Tango den wir lieben in Zeiten von Wohlstand in Argentinien entstanden ist. Argentinien gehörte damals mindestens zu den 10 potentesten Volkswirtschaften weltweit.
Um den anschliessenden Niedergang Argentiniens zu erklären bin ich zuwenig kompetent, aber er hat sicher auch etwas mit der unermesslichen Gier eines kleinen Machtzirkels zu tun, womit wir in der Gegenwart gelandet wären.

Tango Therapist hat gesagt…

Hi Cassiel:
Tango ist oftmals ein Hafen -- auf der Tanzfläche und in einem Tango-Blog. Ich kenne Alex. Er ist zur Zeit nur gelangweilt, dass er so wenige Tanz-Möglichkeiten hat. Wenn ein Politiker spricht von Jesus un ein Pastor spricht von Politiker, es soll ein sehr gute Ausnahme sein! üüü
Grüße aus dem Hauptstadt Amerikas,
Mark

cassiel hat gesagt…

@Tango Therapist

Auch Dir ein "Herzliches Willkommen" hier. Über Deine Anmerkung habe ich mich sehr gefreut. Ich lese Dein Blog regelmäßig.

Und für meine Leserinen und Leser sei der Hinweis gestattet, daß Tango Therapist das Pseudonym des Autors von TANGO-BEAT ist, ein höchst lesenswertes Tango-Blog aus den USA.

Tango Therapist hat gesagt…

Danke schön, Cassiel. Ich habe Dich zufällig gefunden. Irgendwann hoffe ich, dass ich endlich zurück nach Deutschland komme. Meine Kinder (12 und 17 jährige) wohnen in Deutschland, un ich vermisse die sehr. Wenn ich wieder viel Deutsch rede und wider da bin, kann ich bestimmst dein Blog besser verstehen. Bald(hoffe ich) wird es ein englisch-sprachiges Tango-Blog in Deutschland.

cassiel hat gesagt…

@Tango Therapist

Schön, daß Du noch einmal geschrieben hast. Deine Kinder leben in Deutschland? Dann kennst Du Dich ja wohl ein wenig hier aus.

Es gibt ein englischsprachiges Tango-Blog in Deutschland. Melina schreibt in englischer Sprache (siehe Blogroll), aber das kennst Du sicherlich. Ich habe sehr bewusst Deutsch als Sprache gewählt. Zum Einen ist mein Englisch nicht gut genug; zum Anderen möchte ich auch denjenigen Tanguer@s, die ungern englische Texte lesen, einen Zugang zum Tango ermöglichen.