Dienstag, 29. Juni 2010

Tacheles mit Tangueros 4: Rodrigo, Autor der Tango-Anekdoten

Seit sicherlich einem Jahr verfolge ich die wunderbaren Anekdoten von Rodrigo in der Mailingliste tango-de. Mich haben diese Anekdoten immer sehr interessiert und ich habe mich gefragt, warum macht sich ein Tanguero die Mühe, diese Anekdoten auszugraben und mit weiteren Links versehen zu veröffentlichen. Irgendwann entstand ein freundlicher eMail-Kontakt und neulich (genauer: am 10. Juni) haben wir es geschafft uns auszutauschen. Und so plauderte ich mit dem "Archivar des Tangos im deutschsprachigen Raum" (diesen Titel habe ich Rodrigo gerade spontan verliehen). Zur Person: Rodrigo stammt gebürtig aus Chile und lebte lange in Brasilien. Zum Tango fand er vor neun Jahren (in Köln) und lebt jetzt in Berlin. Den Text haben wir (wie immer) per eMail abgestimmt und Rodrigo hat diese Version zur Veröffentlichung freigegeben.


Cassiel: Guten Abend Rodrigo. Schön, daß wir es endlich einmal schaffen. Ich fange gleich mit meiner ersten Frage an: Wann warst Du das letzte Mal auf einer Milonga?

Rodrigo: Gestern, draußen an der Spree, eine sehr schöne Kulisse.

Cassiel: Ich habe Dich für das Interview ausgesucht, da ich von Deinen Anekdoten immer wieder beeindruckt bin...

Rodrigo: Danke, danke...

Cassiel: Inwieweit beeinflusst Deiner Meinung nach das Wissen um die Biografien der "Helden" der Epocha de Oro Deinen Tanz? Oder ist es eine vom Tanzen losgelöste Leidenschaft?

Rodrigo: Die Geschichte des Tangos gibt einen tieferen Kontext, aber sonst ist die Musik viel wichtiger, das ständige Hören hilft sehr viel. Auch wenn ein Tango gesungen wird ist der Text, der die Melodie beeinflusst und diese indirekt den Rhythmus. Es ist eine komplexe Beziehung zwischen beiden.

Cassiel: Magst Du das vielleicht einmal an einem Beispiel erläutern? (Sonst wissen die Leserinnen und Leser nicht, was Du meinst...)

Rodrigo: Ja, gerne. Wenn der Sänger etwas Dramatisches erlebt, spiegelt sich dieses in der Melodie wieder: sie wird schneller oder die Geiger spielen höher. Dies bringt wiederum eine Akzentuierung des Rhythmus.

Cassiel: Und was haben nun die Anekdoten rund um den Tango mit dem Tanzen zu tun?

Rodrigo: Die meisten Tangos der Goldenen Zeit (1937-1959) sind gesungen und häufig gab es den Text des Liedes vor der Musik. Deswegen ist ein 3 Minuten Tango eine Art Mini-Oper.

Cassiel: Vielleicht frage ich einmal ganz direkt: Warum sammelst und veröffentlichst Du Deine Anekdoten in der Mailingliste tango-de? Es wird doch bestimmt einen Grund haben, warum Du Dir die Arbeit machst.

Rodrigo: Mit dem Tanzen hat es wenig zu tun, eher indirekt.

Cassiel: Inwiefern indirekt? Was möchtest Du erreichen?

Rodrigo: Ja, der Grund ist, dass der Tango außerhalb Argentiniens nur als Tanz wahrgenommen wird. Aber es ist viel mehr als das. Es ist eine ethische Haltung dem Leben gegenüber. Ich fand es schade, dass so schöne Geschichte über unseren geliebten Tangos gab und diese wegen der Sprachbarriere weitgehend unbekannt waren. Andererseits spürte ich, dass der Einfluss der Neos immer größer wurde,
zumindest hier in Berlin.

Cassiel: Bleiben wir vielleicht kurz bei dem Stichwort "ethische Haltung". Könntest Du da ein Beispiel geben, wie eine derartige "ethische Haltung" sich in einer Anekdote wieder findet?

Rodrigo: Ja, wenn der Protagonist sagt, z.B. dass es nur eine Liebe in seinem Leben gab und er diese übersah. Oder wenn wir sehen dass der Held der Geschichte für eine Liebe alles verloren hat. Oder wenn über die Zustände der Gesellschaft geklagt wird, aber der Held eher in sich selbst die Schuld zu finden versucht. Die Haltung ist beeinflusst auch von einem Begriff der Ehre, die von den Gauchos kommt. Die Mehrheit der Gruppen hat zum Tanz gespielt, nur eine Minderheit hat es nicht. Gut, es war so, dass damals eine Orchester nur ein Schallplattenvertrag bekommen hat wenn diese bei der Tänzer/innen beliebt war. Es dauert manchmal Jahre bis dies geschah. An einem Wochenende gab es beispielsweise 50 bis 100 Bälle - die meisten mit Livemusik.

Cassiel: Warum also sollten wir uns Deiner Meinung nach heute mit den Geschichten dieser Künstler beschäftigen?

Rodrigo: Es war ein richtiges Massenphänomen. Nur der Blick in die Vergangenheit des Tangos wird uns seine Zukunft zeigen (Horacio Ferrer).

Cassiel: sehr schön...

Rodrigo: All die Moden die wird jetzt erleben, z.B. die Kommerzialisierung, gab es auch schon früher. Der Tango wurde immer wieder für tot erklärt einmal um 1905, dann 1935, dann 1963 usw... Auch vor Piazzolla gab Musiker die nur für Zuhörer spielten wie z.B. der Geiger Elvino Vardaro.

Cassiel: Siehst Du den Tango wieder als Massen- bzw. Breitenphänomen?

Rodrigo: Nein, denn es fehlen Musiker die tanzbaren Tango spielen. Es ist aber so daß immer mehr Menschen ihn tanzen. Der Tango bleibt aber noch immer eine Nische - auch in Buenos Aires. Es müsste vielleicht ein Star Musiker oder Sänger kommen.

Cassiel: Wie erlebst Du den Tango in Deutschland? Welche Unterschiede siehst Du im Vergleich zu Südamerika?

Rodrigo: Der Unterschied ist, dass hier der Tanz eher als eine sportliche Betätigung gesehen wird während er in Südamerika eine Möglichkeit ist, eine Frau zu umarmen (und umgekehrt natürlich). Das ist die Regel mit Ausnahmen wie immer... Und noch eine Bemerkung: Sicher geht es unbewusst auch hier um die Umarmung.

Cassiel: Kommen wir noch einmal zu den Anekdoten zurück... inwieweit beeinflusst das Wissen um einen Musiker Dein Tanzen?

Rodrigo: Nur indirekt. Z.B. wenn Troilo mit Goñi am Klavier spielt ist er rhythmisch und romantisch. Die Anekdoten sind eher interessanter für ein TJ/ane. weil ein Orchester-Stil sich häufig geändert hat - abhängig wer mitspielte. Z.B. Pugliese hatte eine Kooperative und jeder Musiker war für die Arrangements zuständig (abwechselnd), die hören wir in der Textur der Musik von Pugliese wo alle Instrument deutlich zu hören sind, bei Di Sarli sind alle Geigen gleich und er hatte die vollständige Kontrolle von seinem Klavier aus. Troilo übertrieb niemals in sein Soli - so wie er in seinem Leben immer ein Team-Spieler war usw... Auch wenn ein Sänger zu wichtig wurde hat Troilo ihm empfohlen, sein eigens Orchester zu gründen... Ich denke aber, daß das Thema Anekdoten und Tanz nicht sehr ergiebig ist...

Cassiel: Welches Thema ist Dir lieber?

Rodrigo: Wir können gerne über das Tanzen reden, aber dieses mit der Geschichte des Tangos im Allgemeinen in Verbindung setzen.

Cassiel: Du erwähntest oben, daß Du den Eindruck hast, Tango würde hier manchmal eher sportlich betrieben. Was entgeht diesen Menschen? Und welchen Stellenwert hat das "Sich-Einlassen" auf die alte Musik in Deinen Augen?

Rodrigo: Es ist einfach für jemanden der den Text oder Geschichte des Tango versteht, dass es häufig eine Geschichte ist, die Tränen in den Augen des Hörers anregt. Einige meiner Anekdoten sind über sehr traurige Begebenheiten. Obwohl die Musik die Traurigkeit eher in dramatischer Weise interpretiert werden diese Passagen häufig viel zu schnell getanzt. Dann gibt instrumentale Tangos, diese werden aber von der gesungenen Tangos beeinflusst. Es ist so, dass der Charakter der Argentinier
und vielleicht allgemeiner: der Südamerikaner aber auch der Japaner so ist, dass Menschen dort gerne Applaudieren was Tränen verursacht. Dieser Aspekt ist völlig verschieden von der "westlichen Welt". Argentinier und Brasilianer werden häufig als "Sensibelchen" etikettiert.

Cassiel: Wenn Du von jungen Tanguer@s gefragt würdest, wie sie sich dem Tango nähern könnten... welche Antwort käme von Dir?

Rodrigo: Zuerst alle Epochen des Tango hören. Heute ist es einfach, im Internet findet man tausende von Tangos im mp3Format. Diese sollte man einfach hören, wenn man unterwegs ist. Dann: Videos bei YouTube sehen. Es hilft auch, die Titel der Tangos zu kennen oder den ersten Satz. Und natürlich regelmäßig tanzen mit verschieden Partnern. Aber wie Troilo bereits sagte (als gefragt wurde, was er
angesichts einer Jugend empfand, die nur Rock Musik hört), der Tango wartet auf Dich (nicht als Bedrohung). Es ist eine Art Reifeprozess.

Cassiel: Was gefällt Dir nicht so sehr am momentanen Tango in Deutschland?

Rodrigo: Das Problem gibt es nicht nur in Deutschland sondern überall. Es ist die Spaltung in Tradis und Neos. Gut, die Neos haben diese sportliche Haltung noch mehr akzentuiert. Ein schlechter Einfluss. Auch der soziale Aspekt des Tangos gerät völlig in Hintergrund (nicht nur bei den Neos). Es sind einfach zwei unterschiedliche Philosophien zu tanzen.

Cassiel: Ist das nicht eine Frage des "Sich-Einlassens"? Und wenn dem so ist, dann wird es dann wird es vermutlich auch keine Lösung geben... Also sind wir vermutlich bei der Frage, ist Tango Sport oder eine Lebenseinstellung? (Das ist jetzt sehr zugespitzt formuliert) Siehst Du eine Lösung? Oder ist es die bekannte Frage nach dem "authentischen" Tango?

Rodrigo: Nein es gab immer diese Problem in Tango, es sei erinnert an Piazzolla. Die meisten Menschen wollen nicht immer traurig sein, besonders junge Leute. Aus dem Grund, dass der Tango noch immer eine Nische ist müssen wir Tradis und Neos leider miteinander auskommen. Nur bei Festivals werden jetzt verschiedene Tanzflächen eingerichtet, dort gibt es dann genug Tanzende. Auch hier in Berlin gibt es Milongas, die in die eine oder andere Richtung tendieren aber der Einfluss, die
Form zu tanzen, der Neos (z.B. lange Volcadas) sieht man auch bei den Tradis.

Cassiel: Hast Du jemals Neo-Tango versucht? Und wie hast Du Dich ggf. dabei gefühlt?

Rodrigo: Gute Frage. Ja manchmal passiert es, dass ich das Glück habe, mit einer sehr guten Tänzerin traditionell zu tanzen und plötzlich spielt der DJ einen Neo – Tango. Dann tanze ich weiter. Mein Gefühl ist so, als wäre ich wieder in der Disko :)... Es kann anregend sein; wie ein Cocktail - aber ich trinke eigentlich lieber Wein oder Whisky.

Cassiel: Ich höre auf zu tanzen, wenn mir zur Musik nichts mehr einfällt (das ist nicht zwingend bei allen modernen Stücken so, aber bei fast allen Non-Tangos). Was machst Du?

Rodrigo: Fast immer das gleiche, d. h. ich entschuldige mich und tanze nicht weiter. Ich tanze aber auch nicht zu jeglicher traditionellen Musik. Es hängt von meiner momentanen Stimmung ab.

Cassiel: Zu welcher traditionellen Musik tanzt Du nicht?

Rodrigo: Ich tanze eher die De Caro-Schule (also Troilo, Laurenz, Caló, Gobbi und natürlich Pugliese) lieber als die von Canaro, Lomuto. Es hängt aber von meiner Stimmung ab - wie bereits gesagt.

Cassiel: Kannst Du ungefähr (meinetwegen in Prozent) angeben, wie lange Du tanzt bzw. sitzt und Dich unterhältst? Hmmm... Kann man das überhaupt angeben?

Rodrigo: Ich tanze leider immer weniger, man wird anspruchvoller mit der Zeit (und vielleicht auch arroganter - leider). Ich würde sagen, ich tanze etwa die Hälfte der Zeit.

Cassiel: Stimmt! Die intensive Beschäftigung mit der Musik hat auch Schattenseiten... man wird anspruchsvoller.. leider.

Rodrigo: Es gibt Tage aber da sitze ich nur. :(

Cassiel: Manchmal wundere ich mich dann über DJs, die zwar bemerken, daß mehr Menschen sitzen als tanzen, aber auf die Idee, es könne an der Musik liegen, kommen die nicht...

Rodrigo: Die DJs hier in Berlin sind schlecht bezahlt (wenn überhaupt) und die meisten sind leider viel zu jung, die gehen auch kein Risiko ein. Orchester wie die von Gobbi oder Francini-Pontier werden beispielsweise völlig ignoriert... auch Salgán oder Domingo Federico...

Cassiel: Legst Du auf?

Rodrigo: Nein, weil ich nur als Konsument der Tango genießen möchte, aber werweiß, vielleicht in Zukunft.

Cassiel: Wir hatten in einem Mail-Kontakt einmal über Deine Idee für ein Buch gesprochen... Gibt es da Neuigkeiten?

Rodrigo: Wie ich in der Email bereits schrieb: Momentan hat das Sammeln von neuen Anekdoten bei mir Priorität, es eilt nicht und sollte es kein Buch geben, werde ich ein Blog mit alle meinen Anekdote (korrigiert) schreiben. ich habe noch immer sehr schöne Geschichten in petto.

Cassiel: Bekommst Du Resonanz auf Deine Anekdoten bei tango-de?

Rodrigo: Ja, durch die Anekdoten habe ich Bekanntschaft mit dem Organisator des Tango Festivals hier in Berlin gemacht, und er ermöglichte es, einige ausgewählte Anekdoten vorlesen zu lassen (durch meine Lebenspartnerin) das gibt es jetzt ein zweites Mal. Ich wurde auch zum Festival nach Darmstadt eingeladen, und habe ich immer wieder Dank aus allen möglichen Orten in Deutschland bekommen. Nur einmal beschwerte sich jemand dass ich statt Hummel, Hummer schrieb :)

Cassiel: Gibt es Musiker, die Dich besonders beeindruckt haben? Welche sind es? Warum?

Rodrigo: Ja Troilo durch seine fast buddhistischen Sprüche und seine Warmherzigkeit, Pugliese durch seine Bescheidenheit, Di Sarli durch seine scholastische Disziplin, Discépolo durch sein Mitleid für das Leiden des Menschen in seinem Liedern, Juan Carlos Cobian der wegen einer Frau in die USA auswanderte und Carlos Posadas der vielen früheren Musikern beim Komponieren half.

Cassiel: Dann gibt es zum Schluss wie immer die Frage nach Deiner Punktezahl im Anamnesebogen zur Tangosucht.

Rodrigo: Also ich komme auf 360 Punkte.

Cassiel: Und das Schlusswort gehört Dir! Wenn Du drei Wünsche zum Tango frei hättest, welche wären es?

Rodrigo: Ein Orchester erleben, welches gleichzeitig gut und tanzbar ist mit neuen Themen. Die alten Tangos ohne Kratzer hören und besser als heute zu tanzen.

Cassiel: Lieber Rodrigo, vielen Dank für das Gespräch!

Rodrigo: Ok. Danke und Tschüss.

Rodrigo hat auch noch eine neue Anekdote mitgeschickt, die veröffentliche ich morgen.

2 Anmerkung(en):

Patrick hat gesagt…

Da möchte ich doch gleich mal nachhaken: Rodrigo, welche Milongas in Berlin empfiehlst Du jemandem, der die Umarmung sucht, nicht aber das Herumgeturne?

Und weshalb gibt es Milongas, auf denen Du ausschliesslich sitzt? Tatsächlich "nur" wegen der Musik? Da kommt dann den ganzen Abend lang keine brauchbare Tanda? Ich kann das ja fast nicht glauben.

Rodrigo hat gesagt…

Ich kann dir keine Empfehlung abgeben, weil hier in Berlin hängt sehr viel von Zufall ab. Auch wechseln die TJs ständig im selben Lokal.

In Berlin mit Glück kannst Du unvergessliche Tage erleben umgekehrt können diese sehr ärgerlich werden.

Dass ich sitzen bleibe kommt nicht so oft und wenn liegt bestimmt auch an meiner Stimmung. Ich muss aber nicht immer tanzen.

Es kann auch passieren, dass eine für mich ansprechende Tanda kommt und finde aber dann keine richtige Tanzpartnerin. Leider gibt es hier in Berlin keine Cortinas und viele Paare bleiben sehr lange kleben.

Auch passiert, dass ich mit eine so gute Tänzerin tanze und danach kann ich nicht an diese Niveau anknüpfen und bleibe ich deswegen sitzen.

Die andere Gründe habe ich in Interview genannt.